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Kleider machen Leute: Stimmt's oder stimmt's nicht?

Geschrieben von Yvonne Kaiser | 29.11.24 13:36

„Kleider machen Leute“ – ein Satz, den ich mir in einem meiner früheren Jobs häufiger anhören durfte. Gelobt wurde ich von meinem damaligen Vorgesetzten für schöne Schuhe, nicht für gute Leistungen.

Dementsprechend negativ ist mein Blick auf das Sprichwort – und auf Business-Outfits im weitesten Sinne. Die Fixierung meines Vorgesetzten auf spezifische Kleidungsstile hat bei mir den gegenteiligen Effekt erzielt und meine Abneigung dagegen nur weiter steigen lassen. Bis heute fühle ich mich am wohlsten, wenn ich bei der Arbeit das Gleiche tragen kann wie zu Hause.

Trotzdem kann ich das Thema heute – mit einem besonneneren Blick als damals – deutlich differenzierter betrachten.

Zum einen möchte ich überhaupt nicht urteilen. Wer gern Anzug, Kostüm oder ähnliche Outfits trägt und das nicht als Verkleidung empfindet, der soll das gern tun. Denn in dem, was uns kleidet, sollten wir uns in allererster Linie selbst wohlfühlen. Wozu sonst – außer aus praktischen Aspekten wie Wärme – haben wir Kleidung erfunden?

Ich halte es in dieser Hinsicht mit der Kleidung ähnlich wie mit der Ernährung: Leben und leben lassen.

Wenn ich kein Veganer bin, versuch bitte nicht, mich zu einem zu machen. Wenn ich kein Fleisch essen möchte, zwing es mir bitte nicht auf. Und wenn ich keinen Alkohol trinken möchte, dann lass uns doch bitte trotzdem eine gute Zeit haben.

Leben und leben lassen – in der Ernährung ebenso wie bei Fragen der Kleidung kein allzu schlechtes Motto, würde ich sagen.

Ein weiterer Aspekt, der mir dazu einfällt, ist folgender:

Ich mache gern zu Hause Sport. Pilates, um genau zu sein. In der App, die ich dafür nutze, gibt es eine Trainerin, die mir immer wieder – weil es ein Video ist – beibringt, dass ich größer wirke, wenn ich aufrechter stehe. So weit, so unspektakulär.

Und dass ich mich, wenn ich größer wirke, größer fühlen werde. Und dass ich, wenn ich mich größer fühle, selbstsicherer wirke. Und dass ich, wenn ich selbstsicherer wirke, auch selbstsicherer sein werde. Eine Verkettung logischer Folgen.

Worauf ich hinaus will: Aspekt Nummer zwei, den wir betrachten sollten, ist aus meiner Sicht, dass „Kleider machen Leute“ auch ein Stück weit „fake it till you make it“ bedeuten kann.

Wenn du dich im Berufskontext in deiner Alltagskleidung nicht selbstsicher fühlst, wenn du den Eindruck hast, dass du deinen beruflichen Herausforderungen nicht so gut gewachsen bist, so lange du deine private Kleidung trägst, dann behelfe dir doch mit anderen Outfits. Wenn es das ist, das deinem Selbstbewusstsein einen Schub gibt – so what.

Vergiss nur nie – niemals, dass es nicht die Kleidung ist, die die Leistung erbringt oder die die Gespräche führt oder die knifflige Situationen meistert. Das bist immer nur du selbst.

Was uns direkt zu meinem Gedanken Nummer drei katapultiert:

Vielleicht machen Kleider gar nicht Leute, sondern vielleicht helfen sie uns vielmehr, in eine Rolle zu schlüpfen.

Es ist kein Geheimnis, dass wir nicht in jeder Lebenslage exakt die gleichen Aspekte unseres Menschseins zum Vorschein bringen. Vielleicht sind wir im Büro etwas ernster. Gegenüber unseren Kindern etwas kindischer oder besonders streng. Unserem Partner gegenüber liebevoller oder kritischer.

Egal wo wir sind, wir haben für jede soziale Situation passende Nuancen unseres eigenen Selbst parat. Wir zeigen nur eine Facette unseres gesamten Charakters – je nachdem, in welchem sozialen Kontext wir uns bewegen. Wir sind also eine Nuance anders, wenn wir mit unseren Familien zusammen sind, als wenn wir uns mit Freunden treffen oder arbeiten gehen.

Die Unterschiede zeigen sich beim einen mehr, beim anderen weniger. Und ich zumindest empfinde es als ungewohnt, wenn die eine Rolle noch nicht ganz verschwunden ist, obwohl ich das Umfeld längst gewechselt habe. Zu abstrakt?

Ein Beispiel: Es kommt vor, dass mein Mann und ich am gleichen Tag im Home-Office arbeiten. Er in seiner Business-Rolle. Ich in meiner. Wenigstens charakterlich und ab der Hüfte aufwärts.

Wenn wir uns dann zum Feierabend beide im Wohnzimmer treffen – den Rechner gerade erst heruntergefahren und mit dem Kopf noch im letzten Gespräch gefangen – dann kommt es nicht selten vor, dass er oder ich auf eine private Situation anders reagieren, als wir das normalerweise tun würden – diskussionsfreudiger vielleicht oder ein Stück ernster. Wir beenden solche Momente dann schnell, indem er beispielsweise zu mir sagt: „Arbeitsyvonne hat jetzt Feierabend.“

Ein sicheres Zeichen für mich, dass es Zeit ist, aus meiner Business-Rolle zurück in die private zu schlüpfen. Auch wenn ich persönlich den Unterschied gar nicht als so gravierend empfinde, fällt es meinem Mann doch sofort auf.

Nicht dass die eine Yvonne authentischer wäre als die andere – sie gehört nur nicht in diesen Kontext.

Und das bringt uns zurück zu „Kleider machen Leute“: Womöglich dient die Kleidung einigen dazu, ihre Rollen besser voneinander trennen zu können. Leichter von einer Nuance zur anderen wechseln zu können. Ich persönlich gehöre nicht dazu, aber ich kenne einige Menschen, denen ihre Kleidung dabei hilft, sich selbst im aktuellen Umfeld besser einzuordnen.

Und so gesehen machen Kleider dann vielleicht keine Leute, aber zumindest Rollen.

Kommen wir bei Gedanke Nummer vier noch einmal ganz zum Anfang dieses Beitrags zurück: Abseits all der völlig legitimen Zwecke, die wir uns bis hierhin angeschaut haben, gibt es einen, der für mich inakzeptabel ist: der Zwang. Berufliche Sicherheitskleidung und ähnliche Gründe sind dabei natürlich außen vor. Aber das Aufzwingen eines Kleidungsstils ist aus meiner Sicht ein No-Go.

Wenn das der Fall sein sollte – und das hätte ich auch gern meinem jüngeren Ich geraten – dann gibt es meinem Empfinden nach nur eine gute Lösung: offenes Feedback.

Warum die andere Person nicht einfach mal um ein gemeinsames Gespräch bitten, um diese Einstellung oder Vorgabe zu besprechen? Sachlich und ruhig – mit den bekannten drei „W“ (Wahrnehmung, Wirkung, Wunsch) – aber bestimmt.

Einfach mal beide Seiten beleuchten. Mal zuhören. Und mal die eigenen Werte und Motivatoren mit denen des Gegenübers vergleichen.

Das ist das Geringste, das wir tun können: versuchen, einander zu verstehen, auch wenn wir nicht der gleichen Meinung sind.

Und wenn das nichts bringt, solltest du dich fragen, ob du damit leben kannst, dich täglich zu verkleiden, oder ob das Unternehmen vielleicht doch nicht das Richtige für dich ist.

Mein Fazit zu alledem ist kurz und simpel: Wer es nicht als Verkleidung – als Kostüm sozusagen – empfindet oder wer die Verkleidung begrüßt und für sich positiv nutzt, für den ist die Sache klar: Er oder sie soll gern in Anzüge, Kostüme, Rollkragenpullover oder Hoodie und Jeans schlüpfen.

Wichtig sind am Ende für alle nur zwei Dinge: Leben und leben lassen – und zwar in jede Richtung. Und Kleider machen keine Leute.